am schalter

Ein wenig verdutzt lehnte sich Andrea über die Theke und starrte auf die Frau, die ihr soeben erklärt hatte, dass ihr Vater nicht existieren würde.
– wie, er existiert nicht? das muss ein missverständnis sein.
– nicht, dass ich wüsste, antwortete die Beamtin lächelnd, für gewöhnlich unterlaufen uns nie irgendwelche fehler. aber ich kann gerne nochmals nachschauen, wenn sie dies wünschen sollten.
– ja bitte, das sollte ich, sagte Andrea mit einem Hauch von Sarkasmus, während sie mit den Fingern der linken Hand auf den Tresen trommelte.
Auch wenn sie selbst nicht wusste, was sie erwartete – so hatte sie sich den Besuch auf dem Einwohneramt auf jeden Fall nicht vorgestellt.
Während die Dame ohne Eile die Klaviatur ihres Computers betätigte, fuhr Andrea den Buchstaben nach, die sie auf einen kleinen Zettel gekritzelt hatte. Den Namen kannte sie bereits auswendig. Diesen Namen, den man ihr ein Leben lang verschwiegen hatte. Von Schande und Hass wurde gesprochen. Von Flucht, vom Verlassenwerden. Vom Tod auch, das aber selten. Mit der Zeit hatte sie sich damit abgefunden, dass sie nichts wusste, auch wenn es immer wieder Momente gab, in denen sie andere um ihren Vater beneidete.
Und dann, ohne es zu erwarten, hatte sie auf dem Dachboden eine Kiste gefunden mit verstaubten Erinnerungen. Ausgeblichene Fotos, ein Mann mit Brille und Hut und einem schrägen, aber freundlichen Gesicht. Auf der Rückseite eine Postadresse und ein Name. Die Anschrift war ungültig, aber mit dem Namen konnte man etwas anfangen. Hoffte sie zumindest.
Die Mutter sprach seit jenem Moment kein Wort mehr mit ihr. Als hätte sie einen stummen Schwur gebrochen

– aber, wenn es meinen vater nicht gibt, was soll ich denn ihrer ansicht nach machen? fragte Andrea verunsichert.
– ich kann einen neuen eintrag in der datenbank anlegen, wenn sie das wünschen sollten. einen augenblick bitte!
Mit einen Mal war die ganze Gehässigkeit der Beamtin verflogen. Und als wäre nichts gewesen, tippte rasch einige Informationen in die nötige Datei, nahm die Maus in die Hand und liess den Drucker anspringen.
– Voilà, sagte sie lächelnd und legte die gedruckten Blätter auf den Tisch. Johan Kreutz. Geboren am 15. 3. 1958 in Chur. Wohnhaft in Zürich, Gessnerstrasse 21. Das ist das Formular. Das ganze bräuchte ich in doppelter Ausführung, unterschrieben von Ihnen und ihrer Mutter. Da sie ja auch betroffen ist. Sie haben sieben Tage Bedenkzeit. Ist alles in Ordnung, ist der Eintrag ab nächste Woche rechtskräftig. Einen schönen Tag  noch!
Mit offenem Mund nahm Andrea die Blätter entgegen, die ihr die Beamtin über die Theke schob. Schweigend nahm sie ihre Tasche und verliess Gebäude. Auf der Strasse überkam sie das Gefühl, mehr über ihren Vater herausgefunden zu haben, als ihr lieb war.