Ana Bojanić

Meine Erinnerung ist ein sonderbares, fremdartiges Geschöpf. Scheu und unsicher wie sie ist, lässt sie sich nur schwer festhalten, geschweige denn in starre Worte packen. Wie ein junges Tier entzieht sie sich jeder Berührung und springt davon, sobald jemand innehält, um sie genauer zu betrachten. Wie ein langes flatterndes Band ist die Erinnerung an meine Hüften geknotet. Ich brauche sie nicht festzuhalten, sie ist da, sie gehört zu mir. Klar und deutlich zeigt sich das Band der Erinnerung in meiner Nähe. Doch bereits in einigen Tagen Entfernung beginnen die Konturen sich aufzulösen. Das soeben noch schöne Band franst aus, wird fleckig, wechselt seine Farbe und immer zahlreicher werden die kleinen Löcher, die das Licht durchscheinen lassen. Die Zeit nagt am anderen Ende und. Immer grössere Teile reisst sie aus dem fernen Band heraus, ohne dass irgend jemand etwas dagegen zu tun imstande wäre. Zurück bleiben grosse Löcher, in der Erinnerung, die oft nur noch an einem dünnen Faden hängt. Ich habe Angst, dass sie bald einmal vollständig abreisst.

Die Stücke aber, die ich retten kann, hebe ich sorgfältig auf, pflege sie so gut ich kann und beschreibe sie mit meinen eigenen Worten.

Ich trage die Bilder von damals in meinen Taschen herum. Worte reihen sich zufällig aneinander und trennen sich wieder.

Wie eine purpurne Fläche, die alles bedeckt.

Bisweilen fällt es mir schwer, die Gedanken zu ordnen.

Ich erinnere mich an den Mond. Und die Sterne. Und die dunkelblaue Nacht, die unsere Schatten verschwinden liess.

Wer war alles da? Mirko bestimmt. Und Jana auch. Und sonst? Die Gesichter verschwinden in der Dunkelheit.

Ich spüre die warmen Winde, die von Süden übers Mittelmeer kamen. Die klare Julinacht breitete sich über unser Spiel aus. Wir waren unter uns, ohne Eltern, die einem verboten, auf die Hügel zu steigen und die Schafe zu jagen.

Ich fiel lachend ins Gras und blieb liegen. Der Duft der schlafenden Kräuter stieg in meine Nase und der ausgetrocknete Boden hinterliess eine Staubschicht auf unserer Haut.

Von oben herab betrachteten wir die Lichter unseres Dorfes, die aus der Ferne aussahen, als wären sie Funken eines Lagerfeuers, das sich allmählich zur Ruhe legt.

«Dort ist unser Haus», rief Mirko und wies mit der Hand ins Tal.

«Wo denn?», wollte Jana wissen.

«Da am rechten Rand, dort wo der Bach vorbei fliesst.»

«Du lügst!», rief Jana empört. «Es ist viel zu dunkel, um zu sehen, wo der Bach ist. Alles ist schwarz, nur die Fenster sieht man, und die kannst auch du nicht voneinander unterscheiden!»

«Kann ich wohl!», entgegnete Mirko, der nicht damit gerechnet hatte, dass ihm jemand widersprach. Und schon gar nicht ein Mädchen, das zwei Jahre jünger war als er selbst.

«Ich weiss genau, wo unser Haus steht! Sogar in der Dunkelheit sehe ich noch tausend Mal besser als ihr alle zusammen! Papa sagt immer, ich hätte die Augen eines…»

An dieser Stelle macht er eine Kunstpause, wie er es von den Alten her kannte, wenn sie etwas Wichtiges über das Dorf, die Partei oder die Republik deklamierten. Dann breitete er seine Arme aus und fuhr fort: «eines Gepardes!» Noch eine Pause und Mirko fügte halblaut hinzu: «Stimmt’s, Ana?»

Anstelle der erwarteten, bejahenden Antwort bekam Mirko von mir nur ein schallendes Gelächter zurück. Zu komisch war die Kombination aus pathetischer Sprechpause und deplazierter Geste, die beide viel besser zum Begräbnis eines Parteifunktionärs gepasst hätten als in unser nächtliches Gespräch. Ich hielt mir demonstrativ den Bauch vor Lachen, was meinen Bruder vollends in Rage versetzte.

«Du dumme Kuh!», schrie er und wollte sich auf mich stürzen.

Im selben Moment aber schaltete sich Jana wieder ein, die zwischenzeitlich aus dem Schussfeld geraten war:

«In Jugoslawien gibt es aber gar keine Geparden», meinte sie mit einem herausfordernden Unterton.

Wie ein wild gewordener Stier fuhr Mirko herum und mit einem langgezogenen Gebrüll stürzte er sich auf das freche Nachbarsmädchen. Sein Griff nach ihren langen blonden Haaren löste eine kreischende Sirene aus und Jana begann nun ihrerseits an den Haaren ihres Gegners zu ziehen. Gegenseitig warfen sie einander zu Boden, ohne sich nur einen Augenblick loszulassen. Sie bildeten sogleich ein einziges, riesiges Knäuel aus Armen und Beinen, die ineinander verknotet waren. Und da der Abhang recht steil war, begann der raufende, schreiende, brüllende und schnaufende Mirkojana-Haufen sogleich damit, in Richtung desjenigen Dorfes zu kullern, das als Ausgangspunkt des nächtlichen Zanks schon längst wieder vergessen war.

 

Der Geruch einer Wiese, die Geräusche einer Nacht – es sind die kleinen Dinge, die ich in der Tasche meiner Erinnerung mit mir herumtrage. Lose, unzusammenhängende Bilder.

Um einiges schwieriger wird es aber, will man diese Bilder in einen grösseren Zusammenhang stellen.

 

Es gibt Dinge und Bilder, die man am liebsten aus dem Gedächtnis radieren möchte. Sachen, die im Vergessen besser aufgehoben wären, als in der Erinnerung. Und doch haften diese Bilder fest an unseren Gedanken. Es fällt schwer, sie durch andere, schönere Eindrücke zu verdrängen. Durch den Mond beispielsweise, und die Sterne. Oder durch die dunkelblaue Nacht, die uns einhüllt und unsere Schritte verwischt. Ich vermag nicht mehr zu sagen, wie lange unsere nächtliche Wanderung schon gedauert hatte. Zu viert folgten wir dem schmalen Pfad, welcher sich in Schlangenlinien den bewaldeten Abhang hochzwängte. Papa und Mama trugen je eine Tasche, während Mirko mich an der Hand den Pfad entlang schleifte. Ich war müde, in meinem rechten Schuh brannten Blasen an der Ferse und ich hatte das Gefühl, dass mir durch unser Tempo nächstens die Lungen platzen würden. Aber auf meine Frage nach der nächsten Pause meinte Papa bloss, «bald», oder, «wenn wir da sind».

So verging die Zeit und ich weiss nicht, ob wir Stunden oder Tage unterwegs waren. Auf jeden Fall hatte ich das Gefühl, dass unsere Nachwanderung einen Berg hinaufführte, der nie mehr enden würde.

Auf einmal blieb Papa stehen, zischte und wies uns an, still zu sein. Einen Augenblick standen wir alle regungslos da und lauschten der Dunkelheit. Aus der Ferne ertönte das Gebell eines Hundes, der sich zu nähern schien.

Dann ging plötzlich alles sehr schnell.

Das Hundegebell verdoppelte sich und wurde rasch lauter. In der Ferne blitzten die Lichter von Taschenlampen auf, die in unsere Richtung wiesen. Papa reagierte instinktiv und zerrte uns in ein Gestrüpp neben dem Pfad. Er befahl uns, mucksmäuschenstill zu bleiben und uns nicht von der Stelle zu rühren. Dann kroch er selbst wieder aus dem Unterholz heraus, griff nach einem grösseren Stein und rannte in die entgegengesetzte Richtung in den Wald hinein. Das Gebell der Hunde kam immer näher und vermischte sich mit dem Rascheln der Schritte im Laub und den Rufen der Taschenlampenbesitzer.

Plötzlich löste sich ganz in der Nähe eine Salve und unmittelbar darauf schlugen die Kugeln in der Richtung, in welcher Papa verschwunden war, krachend in den Ästen ein. Mama schrie auf und rief verzweifelt, dass wir unschuldig seien, dass wir nichts getan hätten und dass man uns bitte, bitte, bitte nichts tun solle. Doch ihre Bitterufe gingen gänzlich unter in ihrem eigenen Schluchzen einerseits und dem ohrenbetäubenden Gebell des Hundes andererseits, der nun direkt vor unserem Gebüsch hin und her lief und seine Zähne zeigte. Im Laufschritt folgten dem Hund zwei uniformierte Männer, die uns sogleich mit ihren Taschenlampen blendeten. Und während der erste den Lauf seiner Maschinenpistole auf unsere Gesichter richtete, brüllte der zweite etwas in einer fremden Sprache und deutete uns an, aus dem Versteck zu kommen. Zitternd vor Angst krochen wir hervor und hielten einander gegenseitig fest.

Der Hund bellte, die Soldaten brüllten und kurz darauf kam ein dritter Uniformierter aus dem Wald, begleitet von einem Hund, der eine perfekte Kopie des ersten zu sein schien, sowohl was Grösse als auch Lautstärke betraf. Der Soldat schleppte Papa am Oberarm gepackt neben sich her und warf ihn uns vor die Füsse. Sein Gesicht war blutig und das Knie aufgeschlagen. Mama stürzte zu ihm hin und versuchte, ihm das Blut mit dem Ärmel abzuwischen.

Einer der Soldaten befahl den beiden anderen, die Hunde anzuleinen und stellte sich dann breitbeinig vor uns hin uns sagte:

«Im Namen der Schweizerischen Eidgenossenschaft verhafte ich Sie wegen illegalem Übertritt der Staatsgrenze zwischen Italien und der Schweiz!» So etwas in der Art musste der fremde Offizier gesagt hatte, der sich nun vor uns postierte und in einer unverständlichen Sprache zu uns redete. Schliesslich brach er seine Anweisungen ab und die Soldaten rissen uns hoch. Papa wurden die Arme auf den Rücken gebunden und dann marschierten wir weiter. Weiter auf dem steilen Pfad, hinein in den dichter werdenden Wald.

 

Das Gefühl, wann ein bestimmtes Ereignis stattgefunden hat, lässt sich nur allzuleicht täuschen. Einzig die Kausalität der Ereignisse sagt mir, dass sich die unterschiedlichen Szenen meiner Erinnerung in einer bestimmten, geordneten Reihenfolge abgespielt haben müssen.

 

Ein seltener, dichter Nebel lag über dem Hafen des kleinen Dorfes an der Adria, als wir uns vorsichtig dem Pier näherten. Das an zwei Pfosten angetäute Boot schwankte im Rhythmus der Wellen. Noch nie zuvor hatte ich ein Schiff von derartiger Grösse gesehen und doch überkam mich in jenem Augenblick die Befürchtung, dass bei Weitem nicht alle Menschen darauf Platz finden würden, die sich auf dem morschen Steg drängten. Die Menge bestand hauptsächlich aus Familien mit kleinen Kindern oder jungen Männern zu denen sich vereinzelt ältere Personen gesellten. Die murmelnden Gruppen versammelten sich um einen Mann in schwarzer Uniform, der laut Namen von irgendeiner Liste ausrief. Mir war kalt, meine Knie zitterten unter meinem Wollmantel und ich griff fester nach der schützenden Hand, die Papa mir entgegengestreckt hatte.

Nach einer Weile rief der grimmige Mann unseren Namen und wir zwängten uns durch die wartende Menge aufs Boot. Auf der hinteren linken Seite wurde uns ein Platz zugeteilt, der im Grunde genommen nur aus einer kleinen Holzbank bestand. Papa verstaute unsere beiden Taschen unter der Bank und wir setzten uns hin. Mirko stiess einen Fluch aus und wünschte sich ein wärmendes Polster. Mama ermahnte ihn, still zu sein und Papa hob mich auf seinen Schoss. Die Kälte machte mich taub. Ich verbarg mein Gesicht an seiner Brust und schloss meine Augen, während Papa langsam vor und zurück wankte.

Als ich wieder aufwachte hatten das Meer und die Nacht unser Boot in Dunkelheit gehüllt. Neben mir hatte Mirko seinen Kopf auf Mamas Schulter gelegt. Beide atmeten tief. Das ganze Boot war in einen eigenartigen Schlaf versunken. In der Ferne ratterte der Motor, der gegen die Strömung kämpfte. Ich hob den Kopf und betrachtete die schlafenden Leute. Vereinzelt hörte man jemanden schnarchen und auf der anderen Seite des Decks hustete ein kleines Mädchen. Auf dem Boot roch es nach Umkleidekabine beim Sportunterricht, vermischt mit Luft aus Opas Schafstall im Frühling, bevor die Schafe wieder nach draussen dürfen. Mein Kopf drehte sich und ich verspürte einen schrecklichen Durst, doch ich wagte nicht, Papa um etwas Wasser zu bitten. Dieser stand einige Meter entfernt und unterhielt sich leise mit dem schwarzen Mann. Er zählte das dicke Bündel Geldscheine, das er von Papa erhalten hatte. Dann hob er seinen finsteren Blick und stellte eine unverständliche Frage.

«Mehr haben wir nicht!» erwiderte Papa mit einer Stimme, die ich so von ihm noch nie gehört hatte. Hastig zog er die silberne Uhr aus, die ihm Mamas Eltern zur Hochzeit geschenkt hatten, und reichte sie dem grimmigen Mann. Dieser musterte mit seinem finsteren Blick zuerst die Uhr und anschliessend den vor ihm stehenden Mann. Eine Weile blieb er starr stehen und schien über etwas nachzudenken. Schliesslich fluchte er leise, steckte die Uhr ein und ging zurück zum Steuerhaus. Mit langsamen Schritten kam Papa zu unserer Bank zurück und ich sah, wie er sich eine Träne aus dem Gesicht wischte.

 

Die Sonne kletterte gerade über die nahen Hügel als wir am nächsten Morgen nach draussen geführt wurden. Die Nacht war trotz der Kälte und des unangenehm gelblichen Lichts in diesen kahlen, grauen Betonräumen einigermassen ruhig verlaufen. Ich selbst war geradezu glücklich darüber, nach so langer Zeit endlich wieder einmal in einem richtigen Bett schlafen zu dürfen. Selbst wenn es nur aus unbequemen, quietschenden Metallstangen und kratzenden, grau-roten Decken bestand. Die Luft im Zimmer war feucht und abgestanden. Der im Nebenraum ratternde Ventilator schien wenig bis gar nichts zu bewirken. Um so frischer schien mir daher die klare Morgenluft, welche uns vor dem Bunker erwartete.

Mirko und ich hatten uns längst wieder beruhigt und die wärmende Sonne schien auch Mama wieder fröhlich zu stimmen. Zum ersten Mal seit längerem sah ich sie wieder, wenn auch erschöpft, lächeln. Nur Papa kaute nervös am Nagel seines linken Ringfingers, wie er es immer tat, wenn er vor einem wichtigen Ereignis stand, das er mit Spannung erwartete.

Ein dunkelgrüner, russender VW-Bus schlängelte sich vorsichtig die gewundene Strasse hoch. Als er oben angelangt war, stieg ein junger Offizier in geglätteter Uniform aus. Nacheinander schüttelte er uns die Hand, während er mit warmer, ruhiger Stimme auf Papa einredete. Als er bemerkte, dass Papa ihn nicht verstand, lächelte er grosszügig, vollzog mit seinen Händen eine unmissverständliche Geste und führte uns zum Bus.

In einer rund vierzigminütigen Fahrt gelangten wir über die holperige Strasse hinunter ins Tal und der kleine Bus fuhr schneller, bis wir eine Stadt erreichten, die «Benvenuti a Locarno» hiess, wie Mirko auf einem Schild erkennen konnte. Die Strasse wurde nun wieder schlechter, dafür aber auch langsamer wegen den vielen Fahrzeugen vor und hinter uns. Der junge Offizier hielt vor einem schönen weissen Gebäude, rief einen dort stehenden Polizisten in blauer Uniform zu sich, wechselte mit ihm ein paar Worte und machte uns Zeichen, dass wir aussteigen sollten. Ohne sich um den stotternden Motor zu kümmern, reicht er Papa durchs Fenster hindurch die Hand, winkt uns allen heftig zu, lächelt freundlich und ruft «arrivadetschi», oder etwas in der Art. Dann kurbelt er das Fenster hoch, lässt den Bus brummeln und reiht sich wieder im Verkehr ein.

Ich schaute ihm nach bis die schwarzen Auspuffwolken um eine Ecke bogen und in Richtung der Berge verschwanden, woher wir gekommen waren.

Mama nahm mich und Mirko an den Händen und wir folgten Papa und dem Polizisten ins Gebäude, wo wir in einen kleinen Raum geführt wurden, in welchem eine grosse Stadtkarte und ein Bild von einem See an der Wand hingen. Kurze Zeit später betraten ein gutgekleideter, ein wenig rundlicher Mann und eine schlanke, blonde Frau das Zimmer.

«Guten Tag!» sagte die Frau, während sie uns allen die Hand gab. «Dies ist der Untersuchungsrichter, Herr Casetti und mein Name ist Michaela Varese. Ich bin Ihre Dolmetscherin.» Völlig verblüfft warf ich einen Blick auf Mirko und dann auf diese freundliche junge Frau, die ganz unerwartet aus dem Nichts erschienen war und sich mit uns in unserer Muttersprache unterhalten konnte, als wäre es die einfachste Sache der Welt.

Papa hingegen schien diese Tatsache nicht im Geringsten zu überraschen. Ohne zu zögern ging er auf die Dolmetscherin zu, begann sich zu bedanken, zu entschuldigen, wollte sich über die Behandlung in der Nacht beschweren, und über die Behandlung am Morgen bedanken.

Frau Varese beruhigte ihn und bat ihn und Mama, sich an den Tisch zu setzen. Für Mirko und mich hatte sie zwei Gläser mit rotem Saft auf einem Tablett mitgebracht, welches sie auf ein kleines Tischchen in der Ecke stellte.

«Das ist für euch» sagte sie und wies auf die kleine Holzschachtel und die Bogen weisses Papier, welche dort bereit lagen.

Überrascht und völlig verzaubert von der Freundlichkeit dieser fremden Person, setzten wir uns auf das Sofa vor dem Tischchen. Mit ihrem luftigen weissen Kleid und den goldenen Haaren, in welchen eine dunkle Sonnenbrille steckte, erschien sie mir in diesem Moment wie ein Zauberwesen aus einer anderen Welt.

Die Dolmetscherin ging zurück zu Mama und Papa und setzte sich an den Tisch. Zögernd zog Mirko die hölzerne Schachtel mit der Aufschrift «Caran d’Ache» zu sich und öffnete sie vorsichtig. Der Anblick, welcher sich uns bot, verschlug uns die Sprache. Aufgereiht in perfekter Ordnung zeigten sich 24 nagelneue, wunderschöne Buntstifte in allen Farben des Regenbogens. Noch nie hatte ich eine derart perfekte Ansammlung von Farben gesehen. Zu Hause hatten Buntstifte vor allem einen Zweck, nämlich, gebraucht zu werden. Rot, um Artikel in der Zeitung anzustreichen; Blau, um Angaben in Mamas Rezeptbüchern durchzustreichen und korrekt zu ändern; Braun für den Kalender und diverse andere Farben mit welchen Papa einzelne Wörter oder ganze Abschnitte in seinen Büchern anstrich, um sich besser daran erinnern zu können.

Natürlich durfte mit den Buntstiften auch gemalt werden, was uns jedoch vor einige Probleme stellte. Nicht, dass uns die unterschiedliche Grösse der Stifte oder die winzigen Reste einzelner, häufig verwendeter Farben etwas ausmachte. Nein, das Problem bestand vielmehr in der Tatsache, dass einzelne Farben völlig fehlten, während andere, wie etwa Rot, merkwürdigerweise gleich mehrmals vorhanden waren. Insgeheim war ich überzeugt, dass Mirko für den Verlust der fehlenden Buntstifte verantwortlich war auch wenn er dies selbst immer bestritt, und auch wenn ich mehrmals hörte, wie Papa Mama beschuldigte, die Stifte verlegt zu haben.

Wenn ich dann aber Papa auf unser Problem ansprach und ihn bat, die fehlenden Stifte nachzukaufen, antwortete er jeweils mit einer jener Fragen, die eigentlich keine Fragen waren. Ob wir denn glauben würden, dass er das Geld von den Bäumen pflücken könnte, wie die Äpfel von Mehmedinović? Oder ob wir denn nicht besser auf unsere Spielsachen aufpassen könnten? Dann meinte er noch, dass ich doch statt Grün einfach Rot nehmen solle, das mache jetzt ja wirklich keinen Unterschied.

Da ich wusste, dass Papas Fragen in Wirklichkeit keine Fragen waren und weil ich ebenfalls wusste, dass Papa wusste, dass Buntstifte keine Spielsachen waren, sondern eben Buntstifte, antwortete ich ihm mit einer Gegenfrage: ob er denn, nicht wisse, dass die Gardinen von Herrn Krkić von gegenüber grün wären und nicht rot? Und ob er denn nicht wolle, dass meine Bilder unsere Welt korrekt wiedergeben würden?

In solchen Momenten wurde Papa wütend, da er nicht verstand, dass auch meine Fragen keine Antworten verlangten. Brummelnd sammelte er die Buntstifte zusammen und warf sie in die abgegriffene Pappschachtel, welche er in der Küche im obersten Fach versorgte, bis sich sein Zorn einige Tage später verflogen hatte.

Vorsichtig nahm ich einen dunkelgrünen Stift aus der Schachtel und berührte mit dem Finger die fabrikneue Spitze. Ich hielt den Stift an meine Nase und der milde Geruch von frisch gesägtem Holz stieg in meine Nase. Auch Mirko hatte sich unterdessen von der Echtheit der bunten Auslege überzeugt und begann, einen nächtlichen Wald auf ein Blatt zu zeichnen.

Während wir malten und in der fremden Welt der Farben versanken, unterhielten sich Mama und Papa mit dem dicken Untersuchungsrichter und seiner netten Übersetzerin. Nur vereinzelt gelangten Worte an mein Ohr, die mich für eine Sekunde aufhorchen liessen: Bosnien, Krieg, Flucht, Adria, illegale Flüchtlinge, Asyl, Bekannte, Unterkunft. Ihr Gespräch schien sich in weiter Ferne abzuspielen und berührte meine entstehenden Bilder nur am Rande. Ich weiss nicht mehr, wie lange wir an jenem Tischchen sassen und malten. Erst als mich Frau Varese am Arm berührte, hob ich meinen Kopf und sah, dass der Untersuchungsrichter das Zimmer verlassen hatte. Mama trat an unseren Tisch heran und meinte, dass wir nun gehen müssten.

Im Chor wandten Mirko und ich ein, dass wir lieber noch eine Weile zeichnen möchten. Aber Mama hatte kein Erbarmen, griff nach meinem Arm und zog mich vom Tisch hoch.

Als die Dolmetscherin unseren Streit bemerkte, lachte sie fröhlich und sagte: «Aber das ist doch kein Problem! Ihr könnt das Papier und die Buntstifte ruhig mitnehmen und eure Bilder später fertig machen. Ich schenke sie euch!»

Völlig verblüfft stand ich einen Moment lang regungslos da und starrte abwechselnd auf Mama, Holzschachtel und die nette Übersetzerin.

«Willst du dich wohl artig bedanken!», flüsterte Mama und stupste mich in den Rücken. Ich wurde rot im Gesicht, senkte meinen Kopf und dankte leise für das kostbare Geschenk.

In diesem Augenblick verstand ich, was Papa gemeint hatte, als er davon sprach, dass die Schweiz ein reiches Land sei. Wirklich, ein Land, in welchem selbst eine einfache Dolmetscherin die Möglichkeit hatte, völlig fremden Kindern, die dazu nicht mal ihre Sprache verstanden, eine neue und dazu noch vollständige Schachtel mit wunderschönen Buntstiften zu schenken, ein derartiges Land musste wirklich unvorstellbar reich sein!