die entdeckung

An Tagen wie diesem konnte Thomas Werner nicht schnell genug nach Hause kommen. Draussen regnete es in Strömen und wie immer, wenn dies passierte, schien ihm, dass sich die Stimmung zwischen den Computern im Grossraumbüro dem trüben Wetter auf der Strasse anglich. Oder umgekehrt, was keinen grossen Unterschied machte.

Nicht, dass ihm die Arbeit als Versicherungsagent an sich besonders viel Spass bereitet hätte, aber an Regentagen fand er es doppelt so öde, stumpfsinnigen Kunden per Telefon zum hundertsten Mal das Formular E112 zu erklären und sie anschliessend auch gleich von den Vorzügen einer zusätzlichen Rechtsschutzversicherung zu überzeugen, welche sie, wenn er ehrlich war, zwar überhaupt nicht brauchten, aber dann schliesslich doch immer akzeptierten, weil die auswendiggelernten Standardsprüche bei alten Menschen ihre Wirkung nie verfehlten.

 

Nachdem er im Flur auf seine Vermieterin gestossen war, die sich wie immer nach seinem Wochenende erkundigt hatte, stampfte er mit den nassen Schuhe auf den Fussabtreter und steckte den Wohnungsschlüssel ins Schloss seiner Einzimmerwohnung.

Thomas stellte den tropfenden Schirm in die Ecke, die braune Ledermappe daneben und begab sich schnurstracks in die Küche. Hastig leerte er die halbe Tasse Kaffee, die vom Frühstück übriggeblieben war. Dann warf er einen Blick auf die Uhr, riss das vorderste Blatt vom Kalender ab und verliess, ohne sich umzuziehen, seine Wohnung.

Heute war Montag, da durfte er keine Zeit verlieren!

 

Der Regen fiel noch immer ohne Unterbruch, doch jetzt war die Luft angenehm rein und frisch. Gutgelaunt ging Thomas ohne Eile den Gleisen entlang bis zur Tramhaltestelle, wartete nur kurz auf die nächste Strassenbahn und fuhr die gewohnten drei Stationen Richtung Industrieviertel.

Als er sein Ziel erreichte, war der Besitzer gerade damit beschäftigt, das rostige Gitter vor dem Eingang hochzukurbeln.

Mit der üblichen Teilnahmslosigkeit erkundigte sich der Alte nach seinem Wohlbefinden und mit der ewig gleichen Mischung aus Höflichkeit und Gewohntheit liess sich Thomas auf das kurze Gespräch über die Nichtigkeiten des Alltags ein.

Sie hatten einander nicht viel zu sagen. Man kannte sich, und das reichte vollends.

Seit Jahrzehnten öffnete Jensens Antiquariat in der alten Lokhalle die Türen für seine handverlesenen Kunden.

Montag – Freitag

17.00 – 23.00

Bei Krankheit geschlossen.

stand auf einem Schild an der Tür.

Doch das stimmte nicht ganz.

Meistens war es eher 17.03, wegen dem Bus, und abends konnte es auch einmal später werden. Am Montag auf jeden Fall. Über die anderen Tage konnte Thomas nichts sagen. Er war immer nur am Montag da, wenn es neue Bücher gab.

Jensen sammelte jeweils an den Werktagen alle Bücher, die bei ihm abgegeben wurden, sortierte sie übers Wochenende, so dass sie bei Ladenöffnung geordnet in den Regalen standen.

So war es immer. Und so war es auch heute.

 

Nachdem ihr kurzes Gespräch geendet hatte, hängte Thomas seinen nassen Mantel an den Kleiderhaken, stellte den Schirm in den dafür vorgesehenen Ständer und trat zwischen die Regale.

Sogleich stieg ihm der Geruch in die Nase, den er so sehr mochte. Der Geruch von altem Papier, getränkt in verschiedenste Sorten Druckerschwärze.

Im Grunde genommen war es ein wenig übertrieben, den Ort als Antiquariat zu bezeichnen. Vielmehr war die Halle des ehemaligen Lokomotivwerks, die an manchen Ecken noch immer schwach nach Schmierfett roch, eine Art Brockenhaus für Bücher.

Der Unterschied bestand hauptsächlich in der Grösse des Raumes, welcher natürlich die Stimmung merklich beeinflusste.  Während Antiquariate mit engen, dunklen Gängen und knarrenden Holzfussböden eine ganz eigene Atmosphäre hervorbrachten, waren es hier die Bücher allein, welche den Raum füllten. In langen Regalen standen Abertausende von Bänden in allen Grössen und Farben dicht beieinander und warteten auf ihre wissbegierigen Käufer.

Thomas liebte das erhabene Gefühl, welches er beim Gang durch die Halle verspürte. Ein Gefühl von Weisheit und Macht, ausgestrahlt vom gesammelten Wissen der Welt, welches nur darauf wartete, von den Besuchern entdeckt zu werden.

Manchmal kam es vor, dass er sich beim Durchlesen der Buchrücken mit einer Hand am Regal abstützte und dabei zufällig ein Buch berührte. Unbewusst tasteten seine Fingerkuppen das Leder ab, fuhren den Buchstaben nach, streichelten den Einband und wurden zurückgestreichelt. Da war es wieder, dieses wunderbare Gefühl von Eingebung und Genialität!

Und wenn er dann aufblickte, erkannte er, dass seine Finger ihn, ohne es zu wollen, zu einer Erstausgabe von Dantes Komödie oder einer Abschrift von Lessings Laokoon geführt hatten.

 

Für gewöhnlich fing er seinen Besuch in der Bibliothek – er bevorzugte diese Bezeichnung, denn auch hier wurden Bücher mitgenommen und zurückgebracht, mit dem einzigen Unterschied, dass die Personen die mitnahmen und die, welche Bücher brachten, nicht dieselben waren. Thomas mochte diesen Gedanken, auch wenn er vermutlich der einzige war, dem dies aufgefallen war.

Für gewöhnlich also fing er seinen Besuch in der Bibliothek stets auf derselben Route an. Zuerst das kleine Regal mit den gelben Reclamheftchen, die so billig waren, dass er alle Neuankömmlinge immer gleich aufkaufte, wenn er sie nicht bereits zu Hause hatte. Dann die Klassiker, geordnet nach Sprachen, zuerst die Italiener und Spanier, dann die Franzosen, Russen und Engländer, bis er schlussendlich die Wand mit den deutschen Autoren erreichte.

Die neuen Bücher erkannte er meistens auf den ersten Blick. Sorgfältig notierte er sich Titel und Autor in seinem Kopf und wog ab, ob es sich lohnte, das Exemplar aus dem Regal zu ziehen und seinen Wert zu prüfen.

Nach dieser ersten Runde wurde er innerlich ruhig und ging ohne Eile zwischen den Regalen umher – nicht nur bei der Literatur, sondern auch bei historischen, geographischen oder sonstigen Werken – und setzte seine Suche fort. Selbstverständlich war ihm klar, dass er kaum ein Buch finden würde, dass er nicht schon kannte. Doch er liess es sich nicht nehmen, von einem unerwarteten Fund zu träumen. Irgendeine unbekannte mittelalterliche Handschrift, eine seltene Originalausgabe, oder eine andere Rarität, die ihn mit einem Schlag berühmt machen würde.

In solchen Momenten dachte er an seinen Freund Ernst, mit dem er während dem Studium Tage und Wochen in den Archiven verbracht hatte. Ernst Jung war ebenfalls Wissenschaftler und erst kürzlich zum Professor für Slavistik an der hiesigen Universität berufen worden.

Ein Ruf, der, da war er sich sicher, genauso gut ihm selbst hätte gelten können, wenn er sich denn darum beworben hätte. Und wenn er nicht damals die Universität verlassen hätte, um seine eigenen, fundamental-autodidaktischen Studien zu betreiben.

Ja, er hatte die richtige Entscheidung getroffen und alle, die ihn kannten, würden dies bestätigen.

 

Heute aber kam Thomas gar nicht erst dazu, durch die Gänge zu schlendern. Gedankenversunken war er vor der Abteilung für neueste deutsche Literatur stehengeblieben.

War es nicht sonderbar?

Dass Schiller und Goethe dort drüben standen, war klar. Vor allem bei letzterem war es mehr als gerechtfertigt, dass seine Bücher in verstaubten Regalen vermoderten.

Aber wie stand es mit den erst vor wenigen Jahren verstorbenen, oder gar noch lebenden Autoren?

Er nahm einen dünnen Gedichtband von Karl Roderer in die Hand. Es handelte sich um das neuste Werk des jungen Mannes, der schon länger als Kandidat für den Literaturpreis der Akademie gehandelt wurde. Was hatte er Schlimmes getan, dass er hier gelandet war?

Denn so sehr Thomas diesen Ort auch mochte, es war ein Ort des Vergangenen und Vergessenen. Alle Ideen und Gedanken, die sich hier drängten, so gut und schön sie auch sein mochten, eines hatten sie alle gemeinsam. Sie waren alt und längst nicht mehr aktuell. Auch wenn sie eine spezielle Schönheit ausstrahlen, so war es doch der Reiz eines Toten, der sie umgab, und nicht mehr.

Welch erbärmlicher Gedanke, hier zu landen, abgestellt mit dem Zweck, vergessen zu werden!

 

Werner Thomas zog ein kleines schwarzes Buch aus dem Regal, das seine Aufmerksamkeit geweckt hatte, weil der Einband völlig frei von Buchstaben war.

Er schlug die erste Seite auf, um den Titel herauszusuchen. Nach kurzem Blättern schlug er die Decke entnervt zusammen.

Schon wieder eines dieser postmodernen Experimente! Ein erbärmlicher Versuch, die Abwesenheit eines Autors zu suggerieren!

Wenn es eine Gattung gab, die er aus tiefstem Innern hasste, dann war es das sinnlose Geschreibsel dieser selbsternannten Literaten, die an ein abgebrochenes Germanistikstudium zwei, drei Semester Psychologie anhängten, und dann die Welt mit handgeschriebenen Schwachsinn belästigten!

Erregt blätterte er im Buch. Kurzgeschichten! Auch das ein Beweis für die Unfähigkeit dieser pseudointellektuellen Poeten, die keine Geduld besassen, um ein längeres Werk zu schreiben, eine Geschichte, die mehr Aufwand verlangten, als eine im Suff verbrachte Nacht.

Aufs Geratewohl schlug er das Ende einer Erzählung auf und las den letzten Satz, wie er es immer tat, um die Qualität eines Textes zu beurteilen. Der Satz lautete: Er verliess die Halle, flog hinaus auf die Strasse, wo der Regen ihn aufnahm und nicht mehr hergab.

Vollkommener Blödsinn!

Auch das ein Anzeichen des endgültigen Sittenzerfalls der jungen Generation. Der letzte Satz eines Werkes ist immer der wichtigste! Er muss wirken wie eine Essenz, muss den Text zusammenfassen, ihn abschliessen und ihn gleichzeitig für die ganze Welt öffnen.
Und dann solcher Schund! Unbrauchbar!

Er wollte das Buch bereits zuklappen und im Regal versorgen, als ihn eine unerwartete Neugierde erfasste. Er musste sicherstellen, dass die Dilettanten nicht auch noch die letzte Regel der Kunst über Bord geworfen hatten. Er musste sich versichern, dass die Geschichte wenigstens einen Titel besass.

Hastig blätterte er die Seiten um und nach einigem Suchen fand er die Stelle.

Glück gehabt! Da war eine Überschrift.

Erleichtert überflog er die ersten Zeilen:

An Tagen wie diesem konnte Thomas Werner nicht schnell genug nach Hause kommen. Draussen regnete es in Strömen und wie immer, wenn dies passierte, schien ihm, …

Mitten im Satz geriet er ins Stocken. Er spürte wie ihm das Blut in den Kopf schoss und den Schweiss auf die Stirn trieb. Ungläubig las er die Stelle ein zweites Mal. Dann ein drittes und viertes, bis er sich vergewissert hatte, dass er sich nicht verlesen hatte.

Da überkam ihn ein Gefühl, welches er nie zuvor erlebt hatte. Er spürte wie sich alles von ihm entfernte und er statt dessen in das Buch hineingezogen wurde, das er in seinen Händen hielt.

Entsetzt warf er das Buch zu Boden und rannte zum Ausgang. Mantel und Schirm vergass er in der Ecke. Einfach nur nach draussen!

Er verliess die Halle, flog hinaus auf die Strasse, wo der Regen ihn aufnahm und nicht mehr hergab.