hélène

Weisst du, wie du erkennst, dass du mich nicht liebst?
Nein?
Dann lass mich dir davon berichten. Oder warte. Lieber doch nicht. Ich mag dir von der Liebe erzählen, ja das passt besser zu uns beiden.
Also setz dich hin, mach es dir bequem. Aber höre mir nicht zu. Lausche einfach meinen Worten. Denn du weisst auch so, was ich zu sagen dir gewillt. Nimm dir stattdessen deinen linken Arm vor, streiche mit den Fingern zwischen Elle und Hand. Gerade so knapp, dass du die Haut nicht berührst. Und fange an zu zählen. Schliesse deine Augen und fühle, wie die Härchen knistern. Wenn sie sich zu einer ungeraden Anzahl fügen, dann wirst du ein glückliches Leben haben, hat meine Grandmaman gesagt. Sie ist letzte Jahr gestorben und ich glaube ihr.

Wer weiss schon, was mit den Erinnerungen an jenen Tag im Juni passieren wird, die ich seither wie einen wohlbehüteten Hort mit mir herumtrage. Die Fischer des kleinen Küstenortes rissen den Donnerstag von den Kalenderbrett und machten sich auf, mit ihren vom Salz über die Jahre rau gegerbten Händen die Taue der Boote zu lösen, während die an Land gebliebenen Einwohner ihre Häuser für den anstehenden Nationalfeiertag mit Flaggen und Banderolen schmückten.
So fuhren auch wir hinaus und das Schicksal wollte es, dass ich mich in deiner Nähe befand, als du an der Reling standst. Ich hatte dich schon eine ganze Weile lang beobachtet und als du meinen Blick bemerktest, zogst du ein wenig daran, wie an einem Stück Garn. Und wurdest ganz schön dabei.
Ich bin ein selten vollkommenes Exemplar von Ungeschicktheit im Umgang mit Menschen, und insbesondere mit Mädchen. Ich bin im Sprechen besser als im Handeln und im Schreiben viel geschickter als im Reden. Und alles was ich schreibe hätt ich besser nur gedacht.
Soll ich deine schwarze Windjacke beschreiben, die sich gegen die Bö stemmte? Oder dein Halstuch, gestrickt aus weisser Wolle mit schwarz-rotem Ziermuster?
Ich erzählte dir freimütig, wie sehr mir deine Mütze gefällt, wo ich doch eigentlich deine Augen meinte. Und ich lobte deine Kamera und wagte gar, sie sachte zu berühren, wenn doch meine Aufmerksamkeit ausschliesslich deinen Haaren gehörte, die ich anzufassen nicht im Traum mich trauen würde. Ich versteckte mich hinter irgendwelchen Sprüchen, wie ich es immer tue, wenn ich nicht weiss, wie jemandem zu begegnen ist, den ich mag. Leere, unsinnige Worte, weil ich keinen Mut habe, auszusprechen, was ich wirklich fühle und denke. Und ich wage nicht, auf der Zunge zu fühlen und zu denken, weil mir immer scheint, es sei doch alles klar. Mir ist, als sei ich ein offenes Buch, in dem jedes Gegenüber nur zu lesen braucht. Aber offenbar ist es in Lettern geschrieben, die nur mir allein bekannt sind. Ich lerne sehen, hat mein guter Freund Malte einmal gesagt. Recht mag er haben, fürwahr. Aber auch das korrekte Lesen will gelernt sein. Die Frage ist dann bloss, ob ich mir die Mühe machen soll, allen Mädchen meine Sprache zu lesen beizubringen, oder ob es nicht einfacher wäre, wenn ich selbst, die Sprache der Mädchen verinnerlichen und darin zu schreiben beginnen würde?

Zum ersten Mal getroffen hab ich dich zwischen Stühlen und Bänken. Der Raum war voller unbekannter morgenmüder Menschen und die Renaissance-Täfelung dimmte die Worte des Professors. Du hast von Büchern berichtet und davon, wie sie im Angebot waren. Dabei konntest du nicht wissen, wie sehr ich Dinge mag, die zwischen Buchdeckel gebunden, und die Deckel an und für sich, und überhaupt. Ich habe ja gesagt und du hast gelächelt und dich gefreut. Die Woche darauf brachtest du mir Versprochenes vorbei. Ich war dankbar und das war es auch schon. Unscheinbar war diese unsere erste Begegnung, so wie es die meisten sind.
Ist es nicht eigenartig, wie unachtsam die Menschen ihresgleichen begegnen? Gleichgültig nehmen wir unseren Alltag hin, wo es doch genau diese Begegnungen sind, die man sich auf ewig einprägen müsste. Und später dann wissen sie nicht mehr, wann und wo genau ihre Beziehungen zu Freunden, Erzfeinden, Geliebten und Betrauerten ihren Lauf genommen haben. Ich wünschte, ich könnte die Menschen zwingen, sich zu achten auf sich selbst und ihr Umherum. Stattdessen ist es ihnen, wie es ihnen behagt, spielt keine Rolle, und wenn doch, erdenken sie sich eine Erzählung der Genese dessen, was ihnen doch angeblich so viel bedeutet.
Aber auch ich muss zugeben, dass mein Erinnern an unser erstes Zusammenkommen nicht die Schärfe trägt, welche ich von ihm wünschte. Ich frage mich, welch Kleid du damals getragen hast und entscheide mich, dich in einen Rock zu stecken. Knielang, mit Falten und Blumenmuster. Solch einen, wie du ihn häufig trägst, und in dem du so bezaubernd aussiehst. Es würde passen, ja. Aber wie dem auch sei, so gross ist die Rolle nicht, welche dein Äusseres in diesem Zusammenhang hier spielt. Was zählt ist, dass wir uns zwischen und wegen Büchern kennengelernt haben.

Serafina. Wie alle meine Mädchen trägst du diesen Namen. Ist es Zufall, Schicksal, oder einfach eine Laune unser aller Schöpfers? Ich weiss es nicht und will es ehrlich gesagt auch nicht wissen. Es ist mir vollkommen gleichgültig. Aber auffällig ist es trotzdem, dass alle, in die ich mich verliebe, ebendieses eine Merkmal teilen. Dabei mag ich den Namen nicht einmal besonders.
Se-ra-fi-na. Vier dissonante Silben, ohne Gefühl und Zärtlichkeit. Nein, ich mag den Namen nicht.
Ich will dich Hélène nennen. Das passt zu dir und beschreibt deine Schönheit, wie kein Maler es besser könnte.
Und plötzlich bist du ganz anders, wie ein völlig neuer Mensch. Als wärst du nicht mehr du selbst, sondern etwas, was jemand anderes geschaffen hat. Als wäre ich derjenige, der dich zu deiner selbst macht. Aber ist das nicht mit allen Liebenden so? Gestalten nicht alle Liebenden ihre Geliebten so, wie sie es Kraft ihrer Imagination vermögen? Ist es nicht das Ziel jeder aufrichtigen, uneingeschränkten Beziehung, unser gegenüber sosehr zu modellieren, wie es das Ideal der Liebe gebietet? Und dies alles mit dem einzigen Zweck, nämlich die Hoffnung, dass auch wir von unseren Geliebten zu deren Idealgestalt geformt werden.
Teuerste Hélène, für mich bist du perfekt. Ich stünde auf, riefe es in aller Lautstärke in die Welt hinaus, wenn es denn bloss so etwas wie eine Welt gäbe. Aber die Welt, die wir zu existieren glauben verleitet sind, existiert nur für uns alleine. Und sie ist brüchig wie Glas und durch lautes Schreien läuft sie Gefahr zu zerbersten. Wir sind also gut beraten, unsere Worte mit bedacht zu sprechen. Und am beständigsten ist immer noch die Welt, welche wir mit dem Stift auf Papier festhalten.
Also frage ich dich einfach direkt: Jetzt wo du weisst, wie ich dich in meiner Empfindung geschaffen, magst du mir nicht entgegnen, was ich dir bedeute?
Du schweigst.
Nein, du lachst. Lachst laut und doch fast unhörbar. Die Musik im Raum frisst die Gespräche der späten Stunde. Ich gebe auf und mich dem Rhythmus hin. Die Tanzfläche und ich drehen sich im Gegenuhrzeigersinn und in regelmässigen Abständen taucht dein Gesicht vor mir auf. Keine zwei Schritte voneinander weg. Du lächelst und bist so fröhlich, wie ich dich noch nie zuvor gesehen habe. Für einen Augenblick umfassen meine Hände deine Taille. Die Zeit hält an. Dreiundzwanzig, vierundzwanzig. Als gäbe es nichts Normaleres auf der Welt.
Du drehst dich noch lange in meinem Kopf, auch als wir bereits auf der Strasse stehen, wo es schon hell wird. Dabei hätte ich doch gerne dem Freitag Lebewohl gewünscht gehabt. Du bist müde und wir umarmen uns. Dann gehst du mit den anderen die Strasse hoch. Ich sehe dir noch ein wenig nach und lausche dem Geräusch, das deine Schuhe auf die Pflastersteine zeichnen.
Ich gehe am Meer entlang nach Hause. Unweit der neuen Oper setze ich mich auf einen Felsen am Ufer und schaue hinaus aufs Wasser. Die aufgehende Sonne spiegelt sich in Wasser und Fenster. Ich streife meine Armbanduhr ab und zertrümmere sie mit einem Stein. Ich schliesse die Augen. Und ich warte.