im weg, stehend

die türen öffnen sich und hunderte beine strömen hinaus auf den bahnsteig. der junge mann aus dem abteil wankt, fällt hin und kotzt seinen magen leer. angeekelte blicke prasseln auf ihn und das verflüssigte morgenessen herab. kleine mädchen kreischen, eine alte dame wiegt im kopf ihr persönliches mitleid ab. der rest geht vorüber. einige halten sich demonstrativ mund und nase zu. der tag ist gelaufen.
plötzlich ergiessen sich massen auf die enge der halle, die sich nur in der höhe weit und geräumig gibt. woanders müsste man sein, um seine ruhe zu haben. woanders. wannanders, zumindest. aber das kann sich schon längst keiner mehr leisten, in einer zeit, die uneingeschränkte flexibilität verlangt und kein zuspätkommen duldet. unter den füssen gleiten rollende treppen nach oben. nach unten rennen schuhe und an einem imaginierten schnittpunkt treiben die morgendlichen figuren auseinander. niemand kennt sein nebenan. alle sind einander gleich und fliehen hinaus in den tag.
es fällt schwer, sich den bahnhof als ort vorzustellen. als platz an dem irgendetwas bleibt und fassbar ist. der bahnhof ist ein unort in perfektion. hierher kommen menschen um zu gehen. ein kreuzpunkt aller wege, doch ein punkt ist ein punkt und punkte haben bekanntlich keine ausdehnung.
bisweilen stranden hier leute, die die zeit verpasst haben. verloren im nichts warten sie auf die nächstbeste gelegenheit von hier wegzukommen. murmelnde aktenkoffer regen sich auf über staatsbetriebe und verlotterte beamte, die ein schwindendes recht auf existenz verteidigen. doch sie bleiben nicht lang, die maschinen nehmen ihren lauf und brechen das dasein des hier und jetzt auf ein minimum herab.

ich kann mich nicht erinnern, in der halle jemals einen einzigen ton vernommen zu haben. eine sakrale stille begleitet die morgendlichen pendler und hüllt sie ein in ihre gedanken. überdeckt vom gleichgültigen geruch eines anbrechenden tages. nichts sticht heraus, niemand fällt auf.
was bleibt sind stumme bilder. massenweise eindrücke aus einem riesigen fundus an kleinsten details. mein bahnhof ist wie eine unendlich fortgesetzte folge aus polaroidfotografien, die unsortiert in einer pappschachtel landen. tief gleitet die hand hinein und zieht immer wieder neue szenen heraus. unwahrscheinlich, zweimal dieselbe person, ein gleiches ereignis, verwandte gesichter zu finden. und doch liebe ich es, in diesen bildern zu wühlen. ich habe meine lieblinge und hoffe darauf, sie wiederzusehen, ihnen eine geschichte zu entlocken.
ich gebe mir mühe, auch wenn es schwer ist. die menge macht sich selbständig und zieht alle in ihren bann. nur wenige entscheiden sich bewusst dagegen. ich bin einer davon.
wenn ich zeit hätte, würde ich stehenbleiben und die menschen beobachten. heraus aus dem trott, und selber sehen. es zumindest zu versuchen. ich mag die idee, dass es personen geben muss, für welche der bahnhof mehr ist, als ein notwendiges übel auf dem weg zu ihren täglichen beschäftigungen. leute, die sich hier aufhalten, die nicht in wann und wohin denken, sondern in wo und jetzt.
ich nehme einen schritt zur seite und bleibe stehen. sofort rempeln mich anzüge und jacken an, in deren weg kein stehenbleiben eingeplant ist. ich suche mir einen platz, an welchem ich nicht auffalle, niemandem im weg stehe. ein platz, an dem ich sehen kann, ohne gesehen zu werden.
auf der anderen seite der halle steht er. er hat seine festen plätze. morgens und abends befindet er sich hier, wo die hektik am grössten ist. dazwischen hat er einige pausen frei. vermute ich wenigstens. genau kann ich es nicht sagen, ich weiss nur, dass er nicht da ist. er ist meine lieblingsfigur im ganzen bahnhof. vor allem deshalb, weil er konstant ist. ich bewundere seine ausdauer, seine standfestigkeit.
ich bleibe stehen und beobachte ihn. alle seine gesten sind mir bekannt. es sind nicht viele, aber jede steht für eine andere laune. wenn er müde ist, verlagert er sein gewicht auf das  rechte bein, bei anspannung auf das linke. ist er genervt, verfolgt er die passanten mit einem scharfen blick. bei trauer hebt er kaum seinen kopf, bei freude sieht man das an seinen augen. kleine, erschöpfte, aber doch lebendige augen.
ich bleibe stehen und beobachte ihn. unsere blicke treffen sich und ich senke den kopf. wie alle passanten, die auf ihn aufmerksam werden.
er kümmert sich nicht darum, bleibt seiner ruhe treu. in regelmässigen abständen, mit fester stimme, ruft er aus: vanitas! dann einige sekunden pause. obdachlosenzeitung! mit der zeit entwickelt sich ein fester rhytmus, der mich an einen gebetsruf erinnert, was ihm etwas erhabenes verleiht.
ich gehe los, gehe in seine richtung. in meiner manteltasche fühle ich die abgezählten münzen. ich wende sie in meiner hand, mache die faust, will die hand herausziehen. doch ich belasse es dabei.
heute nicht.
wieso gerade heute? was würde ihm das nützen? besser an einem anderen tag. einen moment noch stehe ich still an meinem ort und lasse mich anschliessend treiben. die zeitung erscheint monatlich, denke ich. also macht es keinen unterschied, ob ich sie heute oder morgen kaufe. vermutlich ist es morgen sogar besser. oder an einem anderen tag, an welchem er weniger einkünfte hat als heute. dann gewinnt mein beitrag im verhältnis an wichtigkeit und meine tat macht sinn.
so wird es sein.
diese überlegungen spielen sich in bruchteilen von sekunden ab. im morgendlichen strom bleibt keine zeit für lange reflexionen. wieder stossen mich schultern an und drängen mich zurück in die menge. morgen also. es bleibt dabei.

doch morgen war gestern und heute bin ich nicht weiter. wieder stehe ich an meinem platz und erneut kommen mir zweifel. wäre es nicht besser?, denke ich stumm und gehe meinen gewohnten gang. morgen aber bestimmt!
aber morgen ist heute und jetzt ist es zu spät. ich gehe durch die halle und suche verzweifelt nach einer person, die nicht da ist. in meinem kopf überdecken leere stellen die bilder vom vortag.
da war meine chance und ich habe sie verpasst. die gute tat wird für immer möglichkeit bleiben.
am folgenden tag keimt leise hoffnung auf, als ich seinen platz kreuze, und verliert sich wieder beim anblick der leere. später schwindet die erwartung und was bleibt ist ein gefühl der leere. mich plagen gedanken an meine schuld. wie können die menschen bloss? und weshalb habe ich nicht schon längst?
schliesslich begann auch das schlechteste gewissen zu verschwinden und wollte mich bereits an neuem orientieren. doch plötzlich stand er wieder da. an seinem gewohnten platz, die neuste ausgabe der zeitung in der hand. ungläubig starrte ich auf die stelle, die ich bereits dem vergangenen zuordnen wollte. vanitas! obdachlosenzeitung! drang seine stimme durch zu mir und füllte die schweigende halle.
in alter gewohnheit blieb ich stehen, zählte die münzen in der tasche und beobachtete ihn heimlich. dann gab ich mir einen ruck und ging auf ihn zu.
na, das ist aber eine freude, wo warst du denn die ganze zeit? sagte ich und umarmte ihn grosszügig. er zeigte keine spur von verwunderung, sondern behandelte mich wie einen alten bekannten. na, wo wohl, das kannst du dir ja denken.
eine weile verging, bis sich unser gespräch in eine tiefere richtung entwickelte. er habe, so versuchte er mir zu erklären, vor einigen wochen, zwei um genau zu sein, ein angebot erhalten, das er beim besten willen nicht auszuschlagen vermocht hatte. aus dem nichts sei ein junger fotograf auf ihn aufmerksam geworden, habe ihn zunächst aus der ferne beobachtet und dann schliesslich mit zusammengerafftem mut angesprochen. ob er nicht für eine abschlussarbeit an der kunsthochschule posieren würde. ein wenig geld gäbe es auch.
ich mag kein heimliches beobachten, sagte er, und wollte schon dankend ablehnen, doch irgend etwas an seinen augen faszinierte mich. ich sagte zu, nicht wegen dem geld, sondern wegen seinem eigenartigen blick.
was denn daraus geworden sei, frage ich, als er nach einer pause nicht gleich weiterfuhr. geworden? schaute er mich fragend an. nichts. er hat seine fotos gemacht, stilleben mit penner, versteht sich. das war alles. geld gabs auf einmal auch keines mehr und ich durfte gehen.

eine schöne geschichte, nicht wahr? ein wenig zu schön, muss ich mir selbst gestehen. noch immer drehte ich die abgezählten münzen zwischen meinen fingern. dann gab ich mir einen ruck und ging auf ihn zu.
schweigend nahm er das geld und streckte mir ein exemplar seiner zeitung entgegen. ich nahm sie dankend an und blieb vor ihm stehen. für einen moment herrschte absolute stille. die zeit im bahnhof war stehengeblieben.
eine weile lang suchte ich vergeblich nach einem vorwand, um ein gespräch zu beginnen.
ist es nicht eigenartig? all diese leute, die ihren täglichen nichtigkeiten nachgehen, die ohne rast von da nach dort eilen, ohne sich einen augenblick zeit zu nehmen für einen selbständigen gedanken. niemand kümmert sich um ein wenig selbständigkeit, um seine persönliche freiheit. wie sonderbar muss es sein, tagtäglich in dieser riesigen halle zu stehen und von keinem der vorbeigehenden auch nur ein anflug an aufmerksamkeit zu erhaschen.
ich bin mir nicht sicher, ob ich diese überlegungen nur gedacht, oder wirklich ausgesprochen hatte. auf jeden fall dauerte es einige minuten, bis ich bemerkte, dass der andere zu sprechen begonnen hatte. mehr noch, er schien mir zu antworten.
freiheit, sagte der mann über meinen kopf hinweg. es ist freiheit, die mich antreibt, die menschen, die blinden passanten zu ignorieren und sie mit ansichten zu bedrängen, die sie ignorieren werden.
ich schwieg. in diesem moment konnte ich nicht verstehen, wie jemand sich freiwillig erniedrigt und einen obdachlosen mimt, ohne sich nur einen einzigen augenblick schmutzig und leer zu fühlen, ohne sich den eindrücken bewusst zu sein, die er preisgibt.
später schon. aber damals noch nicht.
etwas verdutzt wartete ich darauf, dass er noch etwas weiteres sagen würde.

wir beide haben mehr gemeinsam, als du denkst. wer sagt denn dass der akt des beobachtens ein privileg der reichen ist. wer andere bespitzelt, offenbart immer auch die eigenen schwachpunkte. eine naive, träumerische vorstellung, mehr als andere wissen zu wollen, ohne beim versuch dazu entdeckt zu werden.
ich beobachte dich seit langem. ich weiss wer du bist.

ein mann rempelte mich an. schlagartig wurde mir bewusst, wo ich mich befand. ich liess die münzen los und nahm die hand aus der tasche. mir war übel. ich fühlte mich allein und der bahnhof wurde enger und enger. ich wollte einfach nur noch weg. hinaus. an die frische luft. bloss weg.

dann war er fort. als ob ihn ein unerwarteter gedanke erfasst hatte, dem er sich nicht entziehen konnte. einige wochen lang war er jeden morgen in einigen metern entfernung stehengeblieben und schaute verlegen herüber. ein leerer blick. die hand zuckt in der manteltasche.
was er von mir gewollt hatte, kann ich nicht sagen. aber dass er etwas wollte, ist klar. ich sehe den menschen ihre gefühle an. sie tragen sie auf dem gesicht, wie brillen. im alltäglichen schwall picke ich mir diejenigen heraus, die mir interessant sind. ich beobachte sie im wissen, dass ich für sie nicht existiere.
dieses wissen entschädigt alles.