morgenshow
Auf dem Frühstückstisch liegen: ein doppeltes Spiegelei und eine halbe Avocado. Mit dem Messer fein säuberlich zertrennt. Irgendeinmal hat Matthias sich an seine Mutter erinnert, die ihre Kinder mit Frühstück gequält hatte. Bitterer Saft und dazu eine Scheibe Butterbrot. Er hatte es gehasst.
Als er später an seine Mutter zurückdachte, waren es exakt diese Frühstücksszenen, die ihm wieder in den Kopf stiegen. Das war nach ihrer Beerdigung auf dem Waldfriedhof. Er hatte sich vorgenommen ihr diesen ewigen Wunsch zu erfüllen und begonnen, sich morgens ein Essen zuzubereiten. ‚Hast du jemals gehört, dass Astronauten nicht frühstücken?‘, hatte sie immer gesagt. Er hat sich bis heute daran gehalten. Jeden Morgen um halb sechs brät er zwei Eier in der Pfanne und schneidet dazu eine Frucht in Scheiben. Dann setzt er Kaffee auf, den er jedoch nur zur Hälfte trinkt. Mehr Zeit bleibt ihm morgens nicht. Wenn er abends nach Hause kommt, sind die Eier kalt und er schiebt sie mit dem Messer in den Eimer. Die Frucht hält sich gewöhnlicherweise ein paar Tage länger.
Als Matthias Holm seinen Wagen aus der Ausfahrt fährt, fallen leichte Flocken auf die Windschutzscheibe. Erst jetzt bemerkt er, dass die Vorstadt sich über Nacht in eine dünne, weisse Decke gehüllt hat. Er schaltet die Heizung an und dreht das Radio leiser. Der Moderator der Morgenshow verkriecht sich in seinen Lautsprecher und begrüsst die Zuhörer mit einer verschlafenen Anekdote. «Ho, ho, ho … Das wird kein Zuckerschlecken heute, Jungs und Mädels! Achtung auf der A8, der Schnee hat den Verkehr plattgemacht!» Der Moderator kichert und Matthias wechselt den Kanal.
Vorsichtig reihen sich die Pendler in die dafür vorgesehenen Kolonnen. Eine träge Linie schlängelt sich langsam in Richtung Stadtzentrum. Matthias wirft einen Blick auf seine Uhr. Die Zeiger weigern sich, ihren Dienst anzutreten und drehen sich stattdessen im Gegenuhrzeigersinn. In Gedanken wendet er seinen Wagen gegen Süden und erwischt sich selbst dabei, wie er an einer Raststätte Geländereifen montiert. Paris–Dakar als zweiter zu beenden, wer wünscht sich das nicht?
Plötzlich ist er hellwach. Eine unebene Stelle in der Fahrbahn rumpelt ihn auf. Der Wagen schlingert, steht beinahe quer, und lässt sich nur mit Mühe zähmen. Dann steht er auf dem Pannenstreifen. Steigt aus, geht ein paar Schritte zurück. Nochmals Glück gehabt …
Den restlichen Weg verbringt er in vollem Bewusstsein. Sein Herz rast, der linke Ringfinger zittert am Lenkrad. Als er auf dem Firmenparkplatz den Schlüssel dreht, hat der Schnee wieder angezogen. Er fällt jetzt in dicken Flocken, die an den Augenbrauen kleben.
«Ein Scheisswetter ist das! Ein solcher Sturm sollte von der Krankenkasse als Freitag übernommen werden!», begrüsst ihn Thomas im Flur. Matthias lässt den gewohnten smalltalk über sich ergehen und nickt zustimmend. «Hast du gehört? Eine Frau hat sich von der Hartbrücke gestürzt» «Ach ja?» «Krass, nicht? Ist direkt vor ein Auto gewatscht! Unten, versteht sich. Die hatte keine Chance, wurde sofort von einem Jeep überrollt. Der Fahrer hat nur eine sanfte Erschütterung gespürt. Das haben sie ihn im Radio gefragt. Noch bevor die Polizei da war. Ich sag dir, die Welt dreht durch!»
Dann ist der Kaffee fertig. Matthias nimmt seine Tasse mit an seinen Platz. Vom Fenster aus kann er den Parkplatz überblicken. Er wärmt seine Hand und betrachtet seinen Wagen, der schon ganz von Schnee bedeckt ist. Als hätte er die ganze Nacht über hier gestanden.
Auf dem Beifahrersitz liegt das Streifenhörnchen. Aus der Entfernung sieht es aus, als würde es schlafen.